Im Marathon seit fünf Jahren unbesiegt
Unter dem Silberhelm wird Marcel Hug zu einem anderen Menschen

Marcel Hug ist eines der grossen Schweizer Para-Aushängeschilder. Seit langem prägt der 38-jährige Thurgauer den Parasport wie kaum jemand. Seine sechsten Paralympics könnten die letzten sein.
Publiziert: 31.08.2024 um 11:40 Uhr
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Aktualisiert: 31.08.2024 um 17:56 Uhr
Marco Keller, Paris

Es gibt nicht viel, was er in seiner Karriere noch nicht erlebt hat. Diesen Moment am Mittwochabend wird er aber nie vergessen: Es ist kurz vor 22 Uhr, als Marcel Hug (38) zusammen mit Elena Kratter (28) die Schweizer Delegation an der Paralympics-Eröffnungsfeier ins temporäre Stadion auf der Place de la Concorde anführt, in der Ferne der Arc de Triomphe und der Eiffelturm. Magisch oder wie es Hug später auf Instagram beschreibt: «Wirklich ein Moment, den man nur einmal erlebt. Es hat mich mit Ehre und Stolz erfüllt.»

Seit zwei Jahrzehnten prägt Hug die Weltspitze. Er absolviert dieser Tage seine sechsten Paralympics. Und doch ist immer noch ein Kribbeln da wie vor seiner Premiere. Und zwar seit Mitte August, als die Delegation in Dietikon ZH die Ausrüstung abholen konnte: «Da wurde alles konkret. Wir haben uns das erste Mal als Team getroffen und die Kleider bekommen. Da kamen das Kribbeln und auch eine gewisse Anspannung», erzählt er. 

Anspannung tut ihm gut, dies zeigt ein – höchst unvollständiger – Auszug aus seinem Palmarès. Zwölf Paralympics-Medaillen hat er gewonnen, davon sechs goldene, dazu ist er 13-maliger Welt- und 11-maliger Europameister und hat 32-mal bei Rennen der «Marathon-Majors» triumphiert, jener Prestigeserie in den attraktivsten Laufmetropolen.

Der Mann mit dem Silberhelm: Marcel Hug ist eine der grossen Paralympics-Figuren im Schweizer Team.
Foto: keystone-sda.ch
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Das Streben nach Perfektion als Antrieb

Ein solcher Leistungsausweis kann nur zustande kommen, wenn nebst den sportlichen Fähigkeiten auch Eigenschaften wie Beharrlichkeit und Motivation stets vorhanden sind. Das ist über eine solche lange Zeit nicht selbstverständlich, war aber für Hug nie ein Problem: «Ich hatte immer Ziele, die ich erreichen wollte. Dazu kommt einfach die Freude am Sport an sich. Ich trainiere gerne, bin gerne draussen, habe gerne Wettkämpfe. Ein weiterer Faktor ist, dass ich immer besser werden will», schildert der Thurgauer, «irgendwo ist es das Streben nach Perfektion, auch wenn es unmöglich ist, diese vollständig zu erreichen.» Er hat auch stets versucht, hier und dort noch ein Prozent herauszukitzeln, zum Beispiel durch unablässiges Tüfteln am Material.

Das Schweizer Para-Aushängeschild ist kurz vor den Spielen im «Maison suisse», dem Schweizer Treffpunkt während der Spiele. Der Thurgauer redet überlegt und eher leise, er ist definitiv kein Lautsprecher. «Wenn ich nicht im Sportumfeld bin, würde ich mich eher als ruhig und zurückhaltend beschreiben», sagt er. Ein Beispiel dafür: Um TV-Interviews reisst er sich nicht: «Ich weiss, dass es dazu gehört und sie wichtig sind. Daran gewöhnen werde ich mich aber nie wirklich.»

Anders sieht es aus, wenn er auf der Rundbahn oder in einer Grossstadt um Hundertstelsekunden kämpft. Da sieht man sofort, dass der Mann viel erreicht hat und bereit ist, noch mehr zu erreichen. Er bestätigt, dass er zwei unterschiedliche Persönlichkeiten hat: «Sobald ich den Silberhelm anziehe, bin ich der ‹Silver Bullet› und voller Selbstvertrauen. Da weiss ich, was ich kann.»

Das Marathon-Preisgeld spendete er für die Kriegsopfer

Der Sport hat ihm viel gegeben, er hat aber auch viel zurückgegeben. So hat er beispielsweise 2022 das gesamte Preisgeld vom Sieg beim Tokio-Marathon der Glückskette gespendet, für die Opfer des Ukraine-Kriegs, der gerade ausgebrochen war. Er mag kein grosses Aufheben darum zu machen: «Als ich gewonnen hatte, konnte ich mich gar nicht richtig freuen, die Situation hat mich zerrissen. Da hatte ich die spontane Idee, das Preisgeld zu spenden.»

Marcel Hug setzt sich auch für die nächste Generation ein: Vor zehn Jahren hat er zusammen mit seinem Langzeit-Trainer Paul Odermatt ein Nachwuchscamp ins Leben gerufen. Rollstuhl-Hoffnungen aus dem In- und Ausland kommen nach Nottwil LU und profitieren vom Know-how von Hug, Odermatt und der Infrastruktur. Vor allem können sie mit dem Dominator der Szene trainieren und sich auch bei einem gemeinsamen Ausflug und bei Workshops wertvolle Tipps holen. Für Hug ist es ein sehr wichtiges Projekt: «Ich hatte auch viel Unterstützung bekommen und will nun etwas für den Nachwuchs machen. Es liegt mir am Herzen, dass sich der Sport weiterentwickelt.» 

Längst sind diese Sommercamps weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und auch bei Hug ein fixer Bestandteil der Planung – sogar in einem Jahr mit Vorbereitung auf die Paralympics. «In diesem Jahr haben wir uns überlegt, ob wir es durchführen sollen, weil es doch einen gewissen Aufwand mit sich bringt, aber mich bereichern diese Camps selber auch immer sehr», sagt Hug.

Der Zukunftsentscheid ist noch nicht gefällt

Bei den letzten Paralympics gewann er in Tokio vier Goldmedaillen, eine Traumausbeute. Eine Wiederholung wird es diesmal kaum geben, aber natürlich sind seine Ziele auch für Paris hochgesteckt: «Wieder vier Goldmedaillen anzustreben, wäre vermessen, Tokio war absolut einmalig. Eine Goldmedaille strebe ich aber schon an.» Viermal ist er am Start, unter anderem am Schlusstag im Marathon, der Disziplin, wo er seit November 2019 ungeschlagen ist.

Verständlich, dass dem Wahl-Luzerner auch immer wieder Fragen zu seiner mittelfristigen Zukunft gestellt werden. Entschieden sei noch gar nichts, sagt er: «Ich werde nach der Saison weiterschauen, wie es weitergeht. Aktuell ist die leichte Tendenz, dass ich bei den Paralympics 2028 in Los Angeles nicht mehr dabei sein werde.» In den nächsten Tagen werden wir Marcel Hug vorerst sicher noch einmal in seiner Lieblingsrolle sehen – mit dem Silberhelm auf dem Kopf.

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