Küng ist hungrig auf den grossen Velo-Klassiker
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Die Hölle des Nordens:Küng ist hungrig auf den grossen Velo-Klassiker

Stefan Küng freut sich auf die Hölle des Nordens
«Hier sind wir Gladiatoren»

Geschüttelt, nicht gerührt! SonntagsBlick begleitet Stefan Küng (28) beim Rekognoszieren von Paris–Roubaix, dem brutalsten Radrennen der World Tour.
Publiziert: 17.04.2022 um 08:39 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2022 um 16:05 Uhr
Mathias Germann (Text) und Benjamin Soland (Fotos) aus Roubaix

Paris–Roubaix. Die «Königin der Klassiker», die «Hölle des Nordens», die «Härteste der Harten». Das sind die Spitznamen dieses Rennens. Alle sind sie treffend. Die 257,7 Kilometer lange Strecke im Nordosten Frankreichs ist mit 30 Kopfsteinpflaster-Passagen gespickt, jede fein säuberlich mit einem bis fünf Sternen kategorisiert. Je mehr Sterne, desto brutaler. Zusammengezählt rumpelt es während 54,8 Kilometern. Wer hier startet, ist verrückt, könnte man meinen.

Wir treffen Stefan Küng, die grösste Schweizer Hoffnung, zwei Tage vor dem Showdown im Hotel «Mouton Blanc» (Weisses Schaf) bei Cambrai. Er ist locker drauf. Deutlich lockerer als bei seiner Premiere. «Als ich hier vor sieben Jahren erstmals startete, war dies – ganz ehrlich – ein Schock. Die Pavé-Abschnitte sind das eine. Die ständigen Kämpfe um die guten Positionen im Feld das andere. Ich hatte mir das nicht so krass vorgestellt», blickt der Thurgauer zurück. Damals, im Jahr 2015, wurde Küng 63.

Vier weitere Male versuchte er sein Glück. Seine Erinnerungen sind nicht nur gut. 2016 wurde Küng von einem Auto überfahren («Ich hatte Glück, quetschte mir nur den Arm»). Zwei Jahre später knallte er derart heftig mit dem Gesicht auf den Boden, dass sein Kiefer brach – Küng ernährte sich danach tagelang mit Hilfe eines Trinkhalms.

Auf gehts! Stefan Küng bereitet sich auf die Rekognoszierung von Paris–Roubaix vor. Was er erleben wird?
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Einige würden nach solchen Erlebnissen das Rennen verfluchen. Oder es zumindest meiden. Küng tut weder das eine noch das andere. «Für mich ist Paris–Roubaix eines der coolsten Rennen überhaupt. Ein Sieg wäre für mich mindestens so schön wie ein Weltmeistertitel», sagt er.

Das Rezept? «Gummiball sein»

Nach dem Frühstück fährt Küng im Teambus von Groupama-FDJ nach Troisvilles. Hier schwingt er sich auf sein 15'000 Franken teures Rad. «Eigentlich weiss ich alles, ich kenne die Pavé-Abschnitte fast auswendig. Und dennoch ist es wichtig, nochmals alles durchzugehen. Fürs Gefühl, aber auch, weil die Bedingungen immer etwas anders sind.»

In diesem Jahr ist es trocken – gefährlich ist das Rennen auch so. «Alle wollen vorne im Feld fahren. Aber das geht nicht, dafür fehlt der Platz. Die Hektik vor den wichtigen Kopfsteinpflaster-Stücken ist riesig», so Küng. Wer stürzt oder Defekt erleidet, hat oft ein Problem. Auch dann, wenn er wieder aufschliesst. «Dieses Rennen ist so hart, dass man es sich nicht leisten kann, unnötige Energie zu verlieren. Doch genau das tut man, wenn man ein Loch zufahren muss.»

Wir fahren mit dem Auto hinter Küng auf dem Quiévy à Saint-Python. Der dritte Pavé-Teil des Rennens ist mit vier Sternen kategorisiert und 3,7 Kilometer lang. Übersetzt heisst dies: hammerhart. Tatsächlich sind die Steine hier so unterschiedlich und schlecht verlegt, dass man es sich kaum vorstellen kann, mit dem Rad darüber zu fahren. Küng tut es trotzdem, mit fast 40 km/h notabene.

Ans Schütteln und Rütteln ist er sich längst gewöhnt. Die Belastung ist dennoch enorm. «Klar, den Lenker muss man gut festhalten. Aber ich darf mich nicht verkrampfen, sondern muss bereit sein, zu reagieren. Mein Ziel ist es, wie ein Gummiball zu agieren», so Küng.

Steine im Kartoffelacker

Besser als Elfter (2019) war Küng bei Paris–Roubaix noch nie. «Aber ich bin überzeugt, dass er gewinnen kann», sagt sein Boss, Marc Madiot (62). «Ich habe Stefan zu diesem Zeitpunkt noch nie so gut in Form erlebt.» Küng widerspricht nicht, «denn ich fühle mich super. Aber ich weiss, welche Überraschungen Paris–Roubaix bereithalten kann.»

Zum Beispiel im Wald von Arenberg. Diese berühmt-berüchtigte Passage ist die letzte, welche Küng und Co. an diesem Tag besichtigen. Sie ist 2,3 Kilometer lang und hat fünf Sterne. «Mit jenen Kopfsteinpflastern, wie wir sie in der Schweiz kennen, hat das hier nichts zu tun. Es scheint, als hätte man grosse Steine in einen Kartoffelacker geworfen – und sie bilden nun die Strasse, über die wir fahren.»

«Das Gegenteil von Wimbledon»

Küng ist bereit, um Grosses zu leisten. «Dieses Rennen ist archaisch. Das Gegenteil von Wimbledon, wenn man es mit Tennis vergleichen möchte. Doch genau darum ist es so speziell. Wir Rad-Profis sind hier wie Gladiatoren. Zwar kämpfen wir nicht bis zum Tod, aber bis zur totalen Erschöpfung. Oder bis uns ein Zwischenfall zur Aufgabe zwingt.»

Doch was ist, sollte Küng am Sonntag scheitern? «Dann versuche ich es halt wieder. Einige Jahre bleiben mir dafür ja noch», sagt er schmunzelnd. Dann verschwindet er im Teambus.

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