«Spitzensport geht auch ohne Terror»
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Kaeslin über Quäl-Methoden
«Spitzensport geht auch ohne Terror»

Ariella Kaeslin war selber Opfer eines miesen Coachs. Jetzt spricht sie den Rhythmischen Gymnastinnen, die sich gegen ihre Trainerin wehrten, Mut zu. Und fordert eine unabhängige Kontrollinstanz.
Publiziert: 27.06.2020 um 23:42 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2020 um 15:51 Uhr
Emanuel Gisi und Cécile Klotzbach

Die Vorwürfe schocken den Schweizer Sport: Zwei Nationaltrainerinnen der Rhythmischen Gymnastik haben ihre Kader-Athletinnen richtig mies behandelt. Cheftrainerin Iliana Dineva wird gefeuert, nachdem ihr im BLICK mehrere ehemalige Nati-Gymnastinnen vorwerfen, sie gegeneinander ausgespielt zu haben. Auf gnadenlose Weise soll sie ihre Schützlinge dazu gebracht haben, auch verletzt anzutreten, in dem sie ihnen unterstellte, sie würden nur simulieren. Dineva soll im Training körperlich derart hart zugepackt haben, dass es danach wehtat. Als dick und als «fette Kuh» habe sie Gymnastinnen bezeichnet, mit deren Gewicht sie nicht zufrieden war. Steinzeit-Methoden, unfassbar eigentlich.

«Als wären wir Tiere»

«Fette Kuh» – Worte, die auch Ariella Kaeslin (32) immer und immer wieder über sich ergehen lassen musste. Ihr ehemaliger Trainer Eric Demay beschimpfte die frühere Weltklasse-Kunstturnerin auf die gleiche Art. «Wenn du tot umfallen würdest, könnte ich dennoch gut zu Abend essen gehen», sagte der Franzose einst zu ihr. In einem Buch («Leiden im Licht») verarbeitete die Europameisterin und WM-Silbergewinnerin von 2009 die Erlebnisse.

«Dieses Muster von Missbrauch kehrt in diesem Sport leider immer wieder zurück», sagt die Luzernerin zum Fall Dineva. Sie kenne den Fall aus der Rhythmischen Gymnastik nicht im Detail, aber er bestätigt, was über diese und ähnliche Disziplinen bekannt ist. «Leider ist der Turnsport ein Milieu, wo der Missbrauch gedeihen kann, die Athletinnen und Athleten sind sehr jung, zwischen 13 und 15», so Kaeslin zu SonntagsBlick.

Die ehemalige Schweizer Turnerin Ariella Kaeslin sagt, dass es wichtig ist, dass sich die Gymnastinnen gegen Missbrauch wehren.
Foto: Keystone
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Oft schweigen die Opfer, egal, wie sehr sie leiden. Oder merken gar nicht, wie übel ihnen mitgespielt wird, weil sie sich längst an das Fehlverhalten gewöhnt haben.

Telefongespräch mit einer der Ex-Nati-Athletinnen. «Bei Dineva habe ich erst spät realisiert, dass sie Sachen macht, die sie nicht darf», sagt die junge Frau, die anonym bleiben möchte. «Dass sie uns auf eine Art behandelt, die zumindest ich nicht akzeptiere. Als wären wir Tiere.» Was, wenn ihre Tochter dereinst auch Rhythmische Gymnastin werden möchte? Die Frage ist noch nicht einmal ganz ausgesprochen, da kommt die Antwort. «Nein. Ich würde ihr sagen, was Fakt ist und ihr raten, sich etwas anderes auszusuchen. Ich weiss, das ist traurig.»

Auflehnung gegen Horror-Trainer

Ariella Kaeslin beschrieb die dunkelsten Stunden so, kurz nach ihrem überraschenden Rücktritt 2011: «Wenn ich einen Knopf hätte drücken können und nachher tot gewesen wäre, hätte ich den Knopf gedrückt.» Ihr alter Trainer hatte sie in eine Erschöpfungsdepression getrieben. «Die ständige Angst vor ihm war das Schlimmste.»

Der Terror, den Demay damals veranstaltete, führte 2007 zur Eskalation. Den Schweizer Turnerinnen um Kaeslin platzt der Kragen: sie streiken. Weigern sich, weiter mit Demay zusammenzuarbeiten. Der Schuss geht zunächst nach hinten los: Der Verband hält dem Horror-Nationaltrainer die Stange, suspendiert die Schweizer Frauen von der Europameisterschaft. Erst später kommen die Verbandsbosse um Ruedi Hediger, damals Chef Spitzensport, heute Geschäftsführer beim STV, zur Vernunft – und feuern Demay.

Foderung nach Kontroll-Kommission

Auch darum sagt Kaeslin über die Rhythmischen Gymnastinnen: «Es ist wichtig, dass sie sich wehren. Das ist oft zwar sehr hart. Aber deshalb ist es auch sehr wichtig, dass sie dabei vom Verband unterstützt werden.» Unterstützung, die Kaeslin und ihre Kolleginnen damals viel zu spät bekamen. «Ich habe auch keine Patentlösung parat. Aber vielleicht wäre es gut, die Turner hätten eine spezielle Anlaufstelle für solche Probleme. Es müsste eine unabhängige Kommission geben, die eine Kontrollfunktion einnimmt und die Geschehnisse überwacht.» Eine unabhängige Meldestelle existiert im Schweizer Sport weiterhin nicht.

Matthias Remund, Direktor im Bundesamt für Sport ­(Baspo), ist auch der Meinung, dass sich etwas ändern muss: «Es braucht einen Kulturwandel, eine eigene Trainingskultur, einen Schweizer Weg. In diese Richtung wollen wir den STV begleiten.»

Beim STV scheint mindestens in Ansätzen die Einsicht gereift, dass Besserung vollzogen werden muss. Nachdem 2018 nach Platz 25 und verpasster Olympia-Quali das komplette Nationalteam ausgetauscht wurde, Cheftrainerin Dineva aber bleiben durfte, wurde ein Verhaltenskodex eingeführt, eine interne Meldestelle gegründet, ab 2021 soll es eine Ethikkommission geben. Ob es geholfen hat? 2019 reagierte das Baspo, entzog der Abteilung das Gastrecht am Leistungszentrum in Magglingen. Was die einen als Neustart sehen, klingt für die anderen nach einem ziemlichen Fehlstart.

«Solche Vorkomnisse darf es nicht mehr geben»

STV-Leistungssportchef Felix Stingelin sieht den Verband auf Kurs. Es gebe eine Reihe von Verbesserungen. «Wir versuchen mit abwechslungsreicheren Trainingsformen das Verletzungsrisiko zu minimieren», erklärt er zum Beispiel, was in den letzten Jahren besser geworden sei. Gymnastinnen mit Fussproblemen dürften im Training mit Schuhen trainieren. «Je nach Trainingsphase gibt es auch eine Obergrenze für die Anzahl Trainingsstunden pro Woche. Des Weiteren arbeiten wir mit einem Sportpsychologen und Mentaltrainer zusammen.»

Die aktuellen Athletinnen fühlten sich sicher, gehört zu werden, wenn sie ein Problem mit ihren Trainern hätten, glaube er. «Mit unserer Kaderkoordinatorin und dem Ausbau im Bereich Athletenbetreuung können wir allfällige Fehlentwicklungen frühzeitig erkennen und verhindern», sagt er. Die Kaderkoordinatorin heisst Anja Altorfer und darf darüber mit Sonntagsblick selber nicht sprechen. Bloss schriftliche Nachfragen seien erlaubt, die dann gemeinsam mit dem Mediensprecher beantwortet würden. «Frau Altorfer konzentriert sich in dieser herausfordernden Phase voll und ganz auf die Unterstützung des Teams», richtet die STV-Medienstelle aus.

Ariella Kaeslin ist da weniger zurückhaltend. Die Luzernerin, derzeit mitten in ihrer Ausbildung zur Physiotherapeutin, findet mit fast zehn Jahren Distanz einen optimistischen Blickwinkel: «Ich bin der Meinung, dass Spitzensport auch auf höchstem Niveau ohne Terror funktioniert. Solche Vorkommnisse darf es nicht mehr geben.»

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