«Damit drücke ich Wertschätzung für Mitarbeiter aus»
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Betreiberin Joëlle Apter:«Damit drücke ich Wertschätzung für Mitarbeiter aus»

Rekordtiefe Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel führen zu Wandel in der Arbeitswelt
Gasthof gibt Angestellten 2 Monate frei – bei vollem Lohn

In der Schweiz herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Für die Angestellten ein Segen, für die Unternehmen ein Fluch. Denn gutes Personal ist rar. Das macht erfinderisch. Gastro-Unternehmerin Joëlle Apter (46) aus dem Zürcher Säuliamt geht mit gutem Beispiel voran.
Publiziert: 10.01.2023 um 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 10.01.2023 um 14:23 Uhr
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Sarah FrattaroliStv. Wirtschaftschefin

Der Gasthof Löwen in Hausen am Albis ZH ist der mit Abstand grösste Gastronomiebetrieb in der Region. Seit fast 200 Jahren werden hier Gäste bewirtet, schreibt der Löwen auf seiner Webseite. Doch wer derzeit eine Geburtstagsfeier im Weinkeller des Löwen ausrichten, ein Hochzeitsessen im grossen Saal veranstalten oder zu einem Apéro in der Löwenbar einladen will, der hat Pech: Das Restaurant macht zwei Monate lang Betriebsferien.

«Die Arbeit bei uns ist anstrengend, ich will dem Team eine Pause gönnen», sagt Joëlle Apter (46), Geschäftsführerin und Inhaberin des Löwen. Der Clou: Ihre 20 festangestellten Mitarbeitenden erhalten während der zweimonatigen Pause den vollen Lohn ausbezahlt. «Die Leute haben sich riesig gefreut, einige haben gleich Flüge nach Thailand gebucht», erzählt Apter.

Fachkräftemangel macht erfinderisch

Es ist das erste Mal, dass der Löwen über den Winter schliesst und die Angestellten in die bezahlten Ferien schickt. Das steht sinnbildlich für den Wandel in der Arbeitswelt: Angestellte sind nicht mehr bereit, bis zum Umfallen zu arbeiten. Der Fachkräftemangel spielt ihnen in die Karten: Die Firmen sind aufs Personal angewiesen, nicht andersrum.

Der Gasthof Löwen in Hausen am Albis schliesst für zwei Monate.
Foto: Nathalie Taiana
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«Wir haben aber keinen Fachkräftemangel», sagt Gastrounternehmerin Apter. Die bezahlten Betriebsferien seien keine Feuerwehrübung, um neues Personal anzulocken. Sondern sie würden sich in eine wertschätzende Betriebskultur einreihen. «Das spricht sich herum», ist Apter überzeugt.

Im Sommer erhalten die Angestellten im Löwen etwa ein Saison-Abo für den nahe gelegenen Türlersee, damit sie die Zimmerstunden zum Baden nutzen können. Andere Gastrobetriebe schenken ihren Mitarbeitenden Fitnessabos oder führen die Vier-Tage-Woche ein.

Der Wandel geht aber weit über die Gastrobranche hinaus, ist Apter überzeugt. Die studierte Biologin war früher IT-Unternehmerin und führt auch heute neben dem Löwen mehrere weitere Firmen, darunter ein Unternehmen für DNA-Herkunftsanalysen.

Dass die Firmen den Angestellten immer mehr Zugeständnisse machen, ist angesichts der rekordtiefen Arbeitslosigkeit von 2,2 Prozent auch kein Wunder. Wer nicht mithält, zieht bei der Personalsuche den Kürzeren.

Kundschaft reagiert wohlwollend

Ihre Angestellten in die verlängerten Ferien zu schicken, mache aber so oder so Sinn, findet Apter: «Die Leute kommen ausgeruht zurück.» Die Energie brauchen sie auch – bereits im März beginnt im Löwen die Hochsaison. Sie dauert bis in den Dezember.

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Der Löwen betreibt neben dem Restaurant, dem Weinkeller, mehreren Sälen und der Bar im Sommer zusätzlich einen grossen Biergarten und ein Parkbeizli in der Nähe. Der Betrieb läuft an sieben Tagen die Woche. Letztes Jahr hat der Löwen über 250 Bankette ausgerichtet, auch das A-la-carte-Restaurant ist an den Wochenenden meist ausgebucht.

Darum ist der Schweizer Jobmarkt so ausgetrocknet

Wenn Unternehmen nun auch bei unqualifizierten Personen Stellen nicht mehr besetzen können, herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) war das Arbeitskräfteangebot in der Schweiz sogar seit Jahrzehnten nicht mehr so knapp wie im vergangenen Jahr.

Die Arbeitslosenzahl für 2022 betrug im Jahresschnitt 99'577 Personen. Daraus resultiert eine Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent. Dabei handelt es sich um die tiefste Quote seit über 20 Jahren.

Was sind die Gründe für die extrem gute Verfassung des Schweizer Arbeitsmarkts? Marco Salvi (53), Arbeitsmarktexperte beim liberalen Thinktank Avenir Suisse, ortet sie beim intakten Wirtschaftswachstum und Aufholpotenzial der Unternehmen: «Der Hauptgrund ist sicherlich die unerwartet schnelle Erholung nach dem Ende der Pandemie.»

Fachkräfte sind in besserer Position als Firmen

Ausserdem helfe die dezentrale Organisation der Arbeitslosenvermittlung. «Dadurch werden Jobs dort vermittelt, wo sie gerade benötigt werden», sagt Salvi. Den akuten Fachkräftemangel löst das allerdings nicht. Laut Daten des Bundesamts für Statistik bekunden 30 Prozent der Firmen Mühe damit, Arbeitskräfte mit höherer Berufsausbildung zu rekrutieren. Ähnlich schwierig ist es, Personen mit Hochschulabschluss oder abgeschlossener Berufslehre zu finden.

Dies spielt den gesuchten Fachkräften in die Hände. Im Job haben sie mehr Spielraum bei Gehaltsforderungen oder sie profitieren von Sonderleistungen wie mehr Ferien. Und statt zu entlassen, versuchen Unternehmen lieber – wenn nötig – an anderen Stellen die Kostenschrauben anzuziehen. Ulrich Rotzinger, Dominique Schlund

Wenn Unternehmen nun auch bei unqualifizierten Personen Stellen nicht mehr besetzen können, herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) war das Arbeitskräfteangebot in der Schweiz sogar seit Jahrzehnten nicht mehr so knapp wie im vergangenen Jahr.

Die Arbeitslosenzahl für 2022 betrug im Jahresschnitt 99'577 Personen. Daraus resultiert eine Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent. Dabei handelt es sich um die tiefste Quote seit über 20 Jahren.

Was sind die Gründe für die extrem gute Verfassung des Schweizer Arbeitsmarkts? Marco Salvi (53), Arbeitsmarktexperte beim liberalen Thinktank Avenir Suisse, ortet sie beim intakten Wirtschaftswachstum und Aufholpotenzial der Unternehmen: «Der Hauptgrund ist sicherlich die unerwartet schnelle Erholung nach dem Ende der Pandemie.»

Fachkräfte sind in besserer Position als Firmen

Ausserdem helfe die dezentrale Organisation der Arbeitslosenvermittlung. «Dadurch werden Jobs dort vermittelt, wo sie gerade benötigt werden», sagt Salvi. Den akuten Fachkräftemangel löst das allerdings nicht. Laut Daten des Bundesamts für Statistik bekunden 30 Prozent der Firmen Mühe damit, Arbeitskräfte mit höherer Berufsausbildung zu rekrutieren. Ähnlich schwierig ist es, Personen mit Hochschulabschluss oder abgeschlossener Berufslehre zu finden.

Dies spielt den gesuchten Fachkräften in die Hände. Im Job haben sie mehr Spielraum bei Gehaltsforderungen oder sie profitieren von Sonderleistungen wie mehr Ferien. Und statt zu entlassen, versuchen Unternehmen lieber – wenn nötig – an anderen Stellen die Kostenschrauben anzuziehen. Ulrich Rotzinger, Dominique Schlund

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Die Angestellten müssten nach den zweimonatigen Betriebsferien den Rest des Jahres aber nicht durcharbeiten, verspricht Apter. Den Angestellten stehen auch in dieser Zeit bezahlte Ferien zu.

Das Nachsehen hat die Kundschaft, die nun vor verschlossenen Türen steht. «Es gibt schon Gäste, die uns vermissen», sagt Apter. Die Mehrheit habe aber Verständnis für die lange Pause. Das zeigen auch Dutzende Kommentare unter einem Facebook-Beitrag des Restaurants zur Betriebspause. «Was für eine wunderbare und vorbildliche Wertschätzung euren Mitarbeitenden gegenüber, bravo», schreibt jemand. Ein anderer Kommentar: «Geniesst die wohlverdiente Pause!»

Liebe Leserinnen und Leser, habt auch ihr von eurer Firma oder eurem Chef ein ähnlich grosszügiges Angebot bekommen wie im Löwen? Schreibt bitte unten in die Kommentare.

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