Experte Peter R. Neumann ist besorgt über steigende Zahl radikalisierter Teenager
«Bei den Anschlägen in Europa gibt es einen dramatischen Anstieg»

Europa sieht sich einer wachsenden Bedrohung durch radikalisierte Jugendliche gegenüber. Der internationale Extremismus-Experte Peter R. Neumann sagt, dass die jungen Täter oft online beeinflusst werden. Die Behörden müssen sich darauf einstellen.
Publiziert: 26.08.2024 um 00:20 Uhr
|
Aktualisiert: 26.08.2024 um 10:29 Uhr
Blick_Portraits_256.JPG
Sebastian BabicReporter Blick

Nach dem erschütternden Messerangriff in Solingen (D), bei dem ein 25-jähriger syrischer Flüchtling drei Menschen tötete und viele weitere verletzte, rückt die Frage in den Vordergrund, wie es überhaupt dazu kommen konnte. 

Extremismus-Experte Peter R. Neumann warnt schon länger davor, dass sich der internationale Terrorismus vermehrt auch in Westeuropa bemerkbar macht. Er sieht beunruhigende Entwicklungen auf Europa zukommen. Durch das Internet werde die Radikalisierung immer einfacher und die Täter würden immer jünger.

Extremismus-Experte Prof. Peter R. Neumann warnt schon länger davor, dass sich der internationale Terrorismus vermehrt auch in Westeuropa bemerkbar macht.
Foto: IMAGO/Funke Foto Services
1/6


Blick: Ein Terrorakt hat Deutschland erschüttert. Sie warnen schon länger davor, dass Deutschland in den Fokus von Islamisten gerät. Was waren Ihre Gedanken, als Sie vom Angriff hörten?
Peter Neumann:
Das hat mich natürlich erschreckt. Selbst wenn man dieses Thema seit 20 Jahren bearbeitet, ist man immer noch über jeden dieser Angriffe erschüttert. Andererseits werden solche Angriffe immer häufiger – und sie kommen näher. Diese Entwicklung betrifft nicht nur Deutschland, sondern ganz Westeuropa. In den letzten zehn, elf Monaten gab es sieben durchgeführte dschihadistische Anschläge und weitere 21 versuchte oder vereitelte Anschlagspläne. Viermal so viel wie 2022 – ein dramatischer Anstieg.

Polizei verhaftet den mutmasslichen Täter
0:46
Videoaufnahmen zeigen:Polizei verhaftet den mutmasslichen Täter

Immer häufiger handelt es sich um Einzeltäter, ohne direkte Verbindung zu Terrororganisationen – sogenannte «einsame Wölfe». Manche sind gar Teenager. Woher kommt diese Entwicklung?
Die Radikalisierung passiert immer häufiger online. Die Zahlen zeigen deutlich, dass die Täter in zwei Drittel der vorher erwähnten Fälle Teenager waren. Dieses Muster sehen wir auch in der Schweiz, wo mittlerweile neun oder zehn sehr junge Menschen festgenommen wurden. Auf dieses neue Phänomen müssen sich die Sicherheitsbehörden einstellen. Erstens auf die Online-Radikalisierung und zweitens auf sehr junge Attentäter, die man vorher nicht auf dem Schirm hatte.

Seit letztem Oktober fanden zehn von 60 Verhaftungen von Terrorverdächtigen in Westeuropa in der Schweiz statt – alles Jugendliche. Der Direktor des Schweizer Nachrichtendienstes redet offen von einem Radikalisierungsproblem. Dennoch gibt es in der Schweiz nur wenige Anschläge. Wie passt das zusammen?
Hierbei spielt das Alter der potenziellen Täter eine Rolle. Ein 13-Jähriger hat es schwerer, sich eine Waffe zu besorgen oder einen Anschlag zu planen als ein 23-Jähriger – wobei es auch für diesen alles andere als einfach ist. Teenager sind – vereinfacht gesagt – nicht ganz so kompetent. Der Angriff eines 15-Jährigen auf einen Juden in Zürich ist europaweit bisher das einzige Beispiel für einen «erfolgreichen» Angriff eines Teenagers im Namen des Jihadismus. Wenn sich Jugendliche aber mit erfahreneren Leuten zusammentun, steigt die Gefahr. Ähnlich wie im Fall der Zelle Schaffhausen-Thurgau, wo bekannt wurde, dass der Vater eines 15-jährigen Mädchens aus Düsseldorf, welches in Kontakt mit den Jugendlichen in der Schweiz war, bereits unter IS-Verdacht stand.

Der Täter in Solingen hätte abgeschoben werden sollen, tauchte ab und kam wieder in die Mühlen der Asylpolitik. Sind die deutschen Asylbehörden da zu lasch?
Das ist aktuell die grosse Frage in Deutschland. Wie geht das weiter beim Thema Migration und Integration? Es ist ganz eindeutig, dass es in Deutschland viele Leute gibt, die als Schutzsuchende oder als Geflüchtete nach Deutschland gekommen sind und die sich nicht ausreichend integriert haben. Wir müssen uns darum entscheiden: Entweder wir sagen, wir schaffen das – dann erhöhen wir unsere Integrationsanstrengungen – oder wir sagen, wir schaffen das nicht, dann lassen wir weniger Leute ins Land.

Die Politik hat sich sehr schnell eingeschaltet. Auf der einen Seite wird eine Verschärfung des Asylwesens gefordert, auf der anderen spricht man sich für Messer- und Waffenverbotszonen aus. Ist Letzteres ein probates Mittel?
Es ist ein Ansatz von vielen. Aber: Dem Islamischen Staat ist es egal, mit welchen Mitteln man Ungläubige tötet. Wenn es mit dem Messer nicht geht, dann mit einem Auto. Nur durch ein Messerverbot wird sich dieses Problem nicht lösen lassen. Es geht letztlich immer darum, was in den Köpfen der Leute vor sich geht.

Fehler gefunden? Jetzt melden