Rose Moura (56) überlebt schweren Töffunfall
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Vor einem halben Jahr:Rose Moura (56) überlebt schweren Töffunfall

Ein neues Leben nach einem schweren Unfall
«Ich war sicher: Jetzt sterbe ich»

Jeden zweiten Tag stirbt in der Schweiz jemand bei einem Verkehrsunfall. Rose Moura hätte eine von ihnen sein können. Eine Geschichte über ein neues Leben, über Vertrauen in fremde Menschen, und über die Kraft der Herzlichkeit.
Publiziert: 02.01.2022 um 01:53 Uhr
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Aktualisiert: 02.01.2022 um 10:41 Uhr
Karin A. Wenger (Text), Nathalie Taiana (Bilder)

Als Rose Moura (56) die Augen öffnet, sieht sie viele weisse Kittel. «Ich lebe noch», denkt sie und versinkt wieder in der Finsternis. Im nächsten Erinnerungsfetzen liegt sie in der Intensivstation. Sie schaut an sich herunter, Stäbe ragen aus ihrem Becken, stechende Schmerzen. Es ist der 1. Juni 2021, der erste Tag ihres neuen Lebens. Als sie Stunden zuvor mit dem Motorrad auf das Auto zuraste, war sie sich sicher: «Jetzt sterbe ich.»

Ein halbes Jahr nach dem Unfall wiederholt Rose Moura beim Erzählen immer wieder diese zwei Sätze: Ich werde sterben; ich lebe noch. Manchmal fasst sie sich dabei mit beiden Händen an die Schläfen, als ob sie die Bilder in ihrem Kopf kaum glauben kann.

Eigentlich weiss die Brasilianerin, die seit 20 Jahren in der Schweiz lebt, bestens Bescheid über Szenarien, die schieflaufen. Potenzielle Katastrophen sind ihr Job. Sie berechnet und beschreibt diese als Risikomanagerin für Firmen in dicken Dossiers.

Rose Moura (56) verunfallte schwer mit dem Motorrad.
Foto: Nathalie Taiana
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Als sie sich 2020 entschied, die Motorradprüfung zu machen, wägte sie auch ab. «Risiken sind eine Chance, etwas zu gewinnen», sagt sie, «man muss sie eingehen, sonst bleibt man zu Hause.» Das Gefühl der Freiheit, das sie auf dem Motorrad erlebt, schien ihr das Risiko wert zu sein. Schon bei ihrem ersten Freund, sie war damals 15 oder 16, sass sie hinten auf dem Sitz und kurvte durch die Strassen von Rio de Janeiro.

Rose Moura wollte etwas Neues wagen: die Motorradprüfung.
Foto: Nathalie Taiana

Auch in der Schweiz fuhr sie manchmal mit bei Freunden. Als sie 2020 einen MBA, ein Masterstudium in Management, abschloss, habe sie sich gesagt: «Viele trauen sich mit Mitte fünfzig nicht mehr, etwas Neues anzufangen, doch gerade jetzt ist der Zeitpunkt dafür da.» Sie kaufte sich die sicherste und am besten gepolsterte Ausrüstung, die sie finden konnte. Das sei Risikomanagement, sagt sie.

Die Frontalkollision

Einen Monat nach ihrem Unfall hätte sie die Prüfung gehabt. Sie wollte noch einmal üben mit ihrem Fahrlehrer. Es war ein warmer Frühlingstag, manchmal fuhr er vorne, manchmal sie. «Ich war so stolz auf mich», sagt sie, «alles ging gut.» Bis zu dieser Kurve. Sie habe den Bogen von Anfang an etwas enger fahren wollen, als sie es normalerweise tue. So, wie es ganz korrekt wäre. Doch sie erwischte den Radius nicht, kam auf die andere Spur. Sie habe sofort korrigieren wollen, doch dann habe sie plötzlich das Auto gesehen. «Ich war wie hypnotisiert. Ich weiss, man sollte in die Richtung schauen, wo man hinfahren will. Ich fuhr direkt auf sie zu. Das muss schrecklich gewesen sein für die Frau im Auto.»

Im ersten halben Jahr von 2021 gab es weniger schlimme Unfälle auf Schweizer Strassen als im Vorjahr. Doch: Noch immer verletzten sich pro Woche 16 Personen schwer, jeden zweiten Tag stirbt jemand. Die Polizei veröffentlicht dann einige anonyme Zeilen.

Am Dienstag, 1. Juni 2021, kurz nach 11 Uhr, fuhr eine Motorradfahrerin von Schwarzenberg Richtung Kriens. Im Gebiet Stampfi kam es aus noch ungeklärten Gründen zu einer Frontalkollision mit einem entgegenkommenden Personenwagen. Die Motorradfahrerin zog sich beim Unfall lebensbedrohliche Verletzungen zu und wurde durch einen Rettungshelikopter der Rega ins Spital geflogen.

Die Polizei veröffentlichte dieses Bild zusammen mit der Unfallmeldung.
Foto: Polizei Luzern

Die Menschen fragen sich, wann wohl ihr Ende kommt. Mit 90, nach einem langen Leben, oder vielleicht doch viel früher? Was bleibt ganz zum Schluss, was wird man bereuen?

Rose Moura schossen in den Sekunden vor dem Aufprall drei Gedanken durch den Kopf. Zuerst: Sie werde sterben. Danach dachte sie an ihre Eltern. Ihre Mutter, die zu Hause Kleider nähte, und ihren Vater, der schon mit 13 arbeiten musste, um die Familie zu unterstützen. Ihre Eltern gaben das ganze Einkommen aus für die Privatschulen ihrer zwei Mädchen, damit sie eine Chance hatten zu studieren.

Und dann, kurz vor dem Aufprall, dachte Rose Moura: «Ich bin zufrieden.»

Rückblickend sagt sie: «Das hat mich so erleichtert, ich hatte keine Angst mehr vor dem Sterben.» Von den Momenten danach sind nur wenig Erinnerungen geblieben. Sie hörte, wie die Autofahrerin ganz ruhig viele Fragen stellte, wie es ihr gehe, wie sie heisse, wie alt sie sei. «Sie hat mich am Leben gehalten», sagt Rose Moura. «Ich weiss nicht, wie sie die Kraft dazu hatte.»

Der Kontrollverlust

Die erste Woche im Spital war sie nur erleichtert. Dann kamen Polizisten und fragten freundlich, ob sie einen Anwalt möchte. Das war das erste Mal, dass sie an ihre Zukunft dachte – und sie begann zu weinen. Bezahlt die Versicherung, wenn ich selbst schuld bin? Ihre Familie wohnt in Brasilien, vom langjährigen Partner lebte sie seit einigen Jahren getrennt. «Ich hatte keine Ahnung. Ich fühlte mich ausgeliefert.»

Sie erinnerte sich an einen Flyer, den ihr die Rega mitgegeben hatte. «Wie weiter nach einem Unfall? Wir helfen. Kostenlos», steht gedruckt. Sie rief an bei der Stiftung Road Cross Schweiz. Eine Beraterin habe ihr gesagt, sie würden sich um alles kümmern. Moura solle ihr einfach Dokumente ihrer Versicherung schicken. Schon am nächsten Morgen stand sie in Kontakt mit einem Anwalt, der auf Verkehrsunfälle spezialisiert ist. Er besuchte sie im Spital, bevor sie in die Rehaklinik Bellikon verlegt wurde.

In der Reha musste sie wieder gehen lernen. Ihr Becken und ihre Unterarme waren mehrfach gebrochen. Sie schlief oft schlecht. Ihr Leben lang hatte sie sich vor wichtigen Entscheiden mögliche Szenarien ausgemalt. Als sie für die Liebe in die Schweiz zog, fragte sie sich: Was mache ich, wenn es nicht klappt? Sich darauf vorzubereiten, gab ihr das Gefühl von Kontrolle. «Ich merkte, es gibt Szenarien, die man nicht planen kann. Der Kontrollverlust machte mir Angst.»

In der Rehaklinik musste sie wieder lernen zu gehen. Als sie in einem Pool den ersten Schritt machte, strömten Tränen über ihr Gesicht.
Foto: Nathalie Taiana

Sie sei eine Einzelkämpferin gewesen. Ihre Eltern hätten immer gesagt: «Wenn du nicht für dich selbst schaust, wird sich niemand kümmern.» Auf einmal musste sie vertrauen. Sie wollte nicht wissen, was genau in ihrem Körper alles kaputt ist, sondern unbefangen den Rat ihrer Therapeuten befolgen. Sie habe sich so schnell erholt, dass die Ärzte eine Fallstudie über sie machen wollten, sagt sie.

Das Strafverfahren

Auch im Strafverfahren verzichtete sie darauf, alle Details zu kennen. Sie vertraute ihrem Anwalt. Das Verfahren ist mittlerweile abgeschlossen, sie wurde verurteilt, weil sie ihr Fahrzeug nicht beherrschte. Doch da sie selbst so schwer und ansonsten niemand verletzt wurde, verzichtete die Staatsanwaltschaft auf eine Strafe. Auf Juristendeutsch heisst das «von einer Bestrafung wird Umgang genommen». Sie musste nur die Verfahrenskosten zahlen. Das Motorrad war am Tag des Unfalls gemietet, weshalb sie nicht als Halterin gilt und Ansprüche auf Schadenersatz bei der Haftpflichtversicherung des Besitzers hat, zum Beispiel für Lohnausfall oder Anwaltskosten. Noch offen sind das Verfahren bei der Suva sowie haftpflichtrechtliche Fragen. Etwa, in welchem Umfang allfällige gesundheitliche Späfolgen entschädigt würden.

Von all den Monaten nach dem Unfall ist für Rose Moura vor allem eins geblieben: Dankbarkeit. «Ich bin überall auf so viel Menschlichkeit und Hilfe gestossen, ohne es zu erwarten. Von fremden Menschen, die alle in Hektik arbeiten und trotzdem immer lächeln. Von der Stiftung Road Cross, die ich nicht einmal kannte.» Sie sammelte eine dicke Mappe voller Kärtchen mit guten Wünschen.

Eines davon schickte ihr die Autofahrerin. «Möchte mich herzlich für den mega Blumenstrauss bedanken», schrieb sie. Rose Moura will die Frau treffen, um sich zu entschuldigen. Doch gerade fehlt ihr dazu der Mut. Sie brauche noch etwas Zeit, sagt sie.

Vielleicht erholte sie sich so schnell, weil sie Hilfe bekam – und Hilfe annahm. Und vielleicht auch, weil sie kein Opfer sein wollte. Jeder ist die Geschichte, die er über sich selbst erzählt. «Meine ist keine traurige Geschichte», sagt Rose Moura. «Sie ist ernst, aber nicht traurig.»

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