Genfer Epidemiologe Janne Estill kritisiert Corona-Politik der Schweiz
«Ich vermisse eine langfristige Strategie»

Der Genfer Mathematiker und Epidemiologe Janne Estill kritisiert, dass die Schweiz keinen langfristigen Plan hat, das Coronavirus zu bekämpfen. Er warnt vor den Mutationen und sagt, warum die Wirtschaft langfristig von harten Massnahmen profitiert.
Publiziert: 20.01.2021 um 15:14 Uhr
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Aktualisiert: 27.01.2021 um 09:13 Uhr
Fabian Vogt

Seit Montag ist die Schweiz im zweiten Lockdown. Die Corona-Zahlen sinken. Doch gleichzeitig kommen die gefährlichen Mutationen aus England und Südafrika. Ist die Schweiz dagegen gewappnet?

BLICK: Seit Tagen gehen die Corona-Zahlen in der Schweiz runter. Haben wir die Epidemie besiegt?
Janne Estill: Nein, auf keinen Fall. Es stimmt zwar, dass die Zahlen derzeit sinken, aber den Grund dafür kennt man nicht. Möglicherweise sind die Ferien – da gab es weniger Kontakte untereinander – und die bisherigen Massnahmen dafür verantwortlich.

Trotzdem, die Zahlen sind tief.
Ja, aber die Mutationen kommen erst. Schauen Sie, was in Grossbritannien oder Irland passiert. Die Fälle sind dort wochenlang explosionsartig gestiegen, die Gesundheitssysteme sind überlastet. Darauf muss sich auch die Schweiz vorbereiten.

Foto: keystone-sda.ch

Warum sind denn diese Mutationen so gefährlich?
Weil die neuen Varianten sich wesentlich schneller ausbreiten. Alle Studien, die ich bisher gesehen habe, gehen von Übertragungsraten aus, die 40-70 Prozent höher sind als bei bisherigen Coronavirus-Varianten.

Können Sie erklären, was das genau bedeutet?
Wenn das jetzige Virus eine Person ansteckt, stecken die neuen Varianten – als Beispiel – 1.5 Personen an. Damit kommt es zu einer exponentiellen Zunahme an Fällen. Schon in wenigen Wochen dürften es hunderte, bald tausende Infektionen mit den neuen Varianten täglich geben. Bald schon dürften diese dominant sein in der Schweiz.

Kann man das quantifizieren? Von wie vielen Fällen bis, sagen wir Ende Februar, sprechen wir da?
Das ist nicht möglich. Das Problem bei exponentiellem Wachstum ist, dass die Zahl der Fälle eine Weile eher stabil scheint. Dann innert einer kurzen Zeit kommt es aber zu einem gewaltigen Anstieg. Ähnlich, wie es bei uns im Herbst der Fall war. Da hatten wir im September lediglich ein paar Hundert Fälle pro Tag, im Oktober waren es dann plötzlich mehr als 5000. Wir müssen darum den R-Wert kontrollieren.

Können Sie kurz erklären, was der R-Wert ist?
Dieser sagt aus, wie schnell sich ein Virus verbreitet. Wenn der Wert bei 1 liegt, gibt es immer ungefähr gleich viele Fälle. Bei 1,1 sind es nach einigen Tagen 10 Prozent mehr, bei 0,9 entsprechend weniger. Der Wert setzt sich aus zwei Faktoren zusammen: dem Verhalten der Menschen, beispielsweise Hygiene und Massnahmen, sowie dem Virus selbst.

Weil also derzeit der eine Faktor – das Virus – zunimmt, muss der andere Faktor – der Mensch und die Massnahmen – gleich schnell in die andere Richtung gehen, um den Wert bei maximal 1 zu halten.
Das ist richtig. Darum reicht es nicht, wenn wir den R-Wert jetzt bei 1 halten. Der muss auf ungefähr 0,7 gesenkt werden, damit ein genügend grosses Polster geschaffen wird für die Mutationen. Je tiefer, je besser.

Die bisherigen Massnahmen reichen allerdings nur, um den R-Wert knapp bei 1 zu halten. Gegen die neuen Mutationen reichen sie in dem Fall nicht?
Das kann ich nicht sagen. Die neuen Regeln sind ja erst seit Montag in Kraft. Wie sich diese auswirken, wird man frühestens nächste Woche sehen. Generell sieht es aus, als ob wir uns in die richtige Richtung bewegen, aber ob das genügt, um Zustände wie in Grossbritannien zu verhindern, ist unklar.

Wie können solche Zustände mit Sicherheit verhindert werden?
Über Massnahmen muss die Politik entscheiden. Was ich generell vermisse, ist eine langfristige Strategie. Das bringt mehr, als kurzfristig immer neue Massnahmen einzuführen und sich von Lockdown zu Lockdown zu hangeln. Ich hätte gerne gesehen, wenn im letzten Sommer ein Plan für Herbst und Winter gemacht worden wäre. Dazu ist es zu spät, aber jetzt wünsche ich mir, dass wir wenigstens einen Plan haben, wie wir durch den Winter und Frühling kommen.

Was wäre der Vorteil einer langfristigen Strategie?
Man könnte dadurch hoffentlich strenge Lockdowns verhindern. Denn je härter diese sind, desto schneller kommt auch der Ruf nach Lockerungen. Das führt zu einem Jojo-Effekt von Massnahmen und Lockerungen, je nachdem, wie viele Fälle es gerade gibt. Das verunsichert alle.

Wie würde ein solcher Plan aussehen?
Beispielsweise muss man nicht kurzfristig über Schulschliessungen nachdenken, sondern generell über Masken tragen im Unterricht, über Lüftungskonzepte oder was man mit Kindern von Risikopatienten macht. Diese Konzepte können dann während der ganzen Pandemie aufrechterhalten werden.

Apropos Kinder: Aktuelle Studien sagen, diese sind von den Mutationen stärker betroffen als bisher. Haben Sie dazu auch Zahlen?
Dafür ist es noch zu früh. Aber wir wissen, dass Kinder auch Träger des Virus sind. Wir müssen alle nötigen Massnahmen ergreifen, um auch sie und ihre Familien zu schützen. Meine Untersuchungen der ersten Welle haben gezeigt, dass es Massnahmen in allen Bevölkerungsgruppen braucht, um das Virus effektiv bekämpfen zu können.

Was sind denn die besten Massnahmen?
Darauf gibt es leider keine Antwort. Massnahmen können nicht isoliert betrachtet werden, denn es werden ja häufig mehrere gleichzeitig eingeführt. Zudem setzt jedes Land auf andere Massnahmen, der Kontext ist in jedem Land unterschiedlich, und damit ist auch der Erfolg unterschiedlich. Was sicher scheint: Es ist für uns alle besser, das Virus so rasch als möglich in den Griff zu bekommen – für die Wirtschaft übrigens auch.

Aber härtere Massnahmen bedeuten mehr geschlossene Geschäfte, mehr Menschen in Kurzarbeit.
Natürlich muss man die Betroffenen unterstützen und entschädigen. Langfristig wird sich die Wirtschaft aber schneller erholen, je schneller das Virus besiegt ist. Die Menschen sind gesünder, produktiver, es kommt zu weniger Arbeitsausfällen, das BIP steigt. Man sollte darum nicht auf die Situation heute schauen, sondern die geeigneten Massnahmen treffen, dass man so rasch als möglich wieder normal leben kann.


Janne Estill (38) studierte Mathematik in Helsinki (Finnland) und machte seinen Doktor 2013 an der Universität Bern im Bereich «Mathematische Modelle von HIV». Seit 2017 arbeitet er am «Institut of Global Health» der Universität Genf. Er analysiert, wie sich Viren verbreiten und erstellt mathematische Modelle, um die ökonomischen und sozialen Auswirkungen von Viren-Bekämpfungsmassnahmen in der Schweiz und weltweit zu evaluieren.

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