Medizinische Gutachten im «Schnellzugstempo»
IV-Arzt kassierte 568'650 Franken – im Nebenjob

Der Psychiater Christian Fricke hat in einem Jahr 150 Gutachten für die Invalidenversicherung erstellt, während er in einem 70-Prozent- Pensum für die Suva arbeitete. Ein SVP-Nationalrat sieht Handlungsbedarf – der Bundesrat nicht.
Publiziert: 31.12.2023 um 00:31 Uhr
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Aktualisiert: 31.12.2023 um 15:59 Uhr
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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Beantragt jemand eine Invalidenrente, müssen die kantonalen IV-Stellen abklären, ob der Anspruch auf Unterstützung gerechtfertigt ist. Dazu geben sie medizinische Gutachten in Auftrag. Gutachten, die mehrere medizinische Fachbereiche betreffen, werden nach dem Zufallsprinzip vergeben. Monodisziplinäre Gutachten – also solche, die nur einen Bereich tangieren – dürfen direkt an die entsprechenden Fachärzte verteilt werden.

2022 gaben die kantonalen IV-Stellen auf diese Weise mehr als 4300 monodisziplinäre Gutachten in Auftrag. Zum Zug kamen 386 Ärztinnen und Ärzte: 294 von ihnen machten weniger als 10 Gutachten. 70 Mediziner erstellten zwischen 10 und 50 Gutachten. 22 Ärztinnen und Ärzte kamen auf 50 Gutachten oder mehr.

Der beliebteste Einzelgutachter war Christian Fricke aus dem Kanton Luzern. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie erhielt 2022 von den kantonalen IV-Stellen 150 Aufträge für monodisziplinäre Gutachten – und erhielt dafür 568'650 Franken. Bereits 2020 (342'425 Franken) und 2021 (439'827 Franken) hatte er für seine Arbeit sehr viel Geld erhalten von der IV.

Express-IV-Gutachter Christian Fricke arbeitet hauptberuflich für die Suva.
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Zum Vergleich: 2019 erzielten selbstständige Psychiaterinnen und Psychiater gemäss einer Studie des Bundesamts für Statistik ein durchschnittliches Jahreseinkommen von 126'633 Franken.

150 Gutachten pro Jahr sind ein erstaunliches Pensum für einen einzelnen Mediziner. Noch erstaunlicher ist die Zahl, weil Fricke nur im Nebenjob als IV-Gutachter tätig ist. Hauptberuflich arbeitet der Deutsche in einem 70-Prozent-Pensum bei der Suva, wie Recherchen von Blick zeigen. Bei der Unfallversicherung berät er die Abteilung Schadenabwicklung bei psychiatrischen Fragestellungen.

Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verteidigt Fricke

Für seine Tätigkeit als IV-Gutachter bleiben demnach 70 bis 80 Arbeitstage pro Jahr. In dieser Zeit machte Fricke 2022 durchschnittlich etwa zwei medizinische Gutachten pro Tag, was täglich 7600 Franken in die Kasse seiner GmbH spülte. Lassen sich in so kurzer Zeit seriöse Gutachten erstellen, die über menschliche Schicksale entscheiden?

Fricke hat keinen Zweifel daran: «Die Möglichkeit, in einem begrenzten Zeitrahmen aussagekräftige Gutachten zu erstellen, beruht auf meiner langjährigen Erfahrung sowie einem strukturierten Arbeitsansatz», sagt er auf Anfrage von Blick. Die Anzahl der Gutachten pro Jahr stünden im Einklang mit den ethischen und medizinischen Standards aller Beteiligten.

Zudem weist Fricke darauf hin, dass er für die Erstellung von Gutachten «Hilfspersonen» beiziehe: «Dies ist eine praxisübliche Massnahme, um bestimmte administrative oder unterstützende Aufgaben zu delegieren.» Dazu gehörten beispielsweise die Sammlung von zusätzlichen Patientendaten oder die Organisation von Unterlagen. Der Psychiater betont: «Die inhaltliche und medizinische Verantwortung für die Gutachten bleibt stets in meiner Hand.»

Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), das für das IV-Gutachterwesen verantwortlich ist, gibt Fricke Rückendeckung: «Ein fachlich kompetentes Backoffice kann sehr wohl zu einer speditiven Abwicklung von Gutachten beitragen», sagt eine Sprecherin. Zudem weist die Behörde darauf hin, dass Fricke in seiner «freiberuflichen Tätigkeit» durchaus mehr als die genannten 70 bis 80 Tage arbeiten könne, womit für die Erstellung der einzelnen Gutachten wiederum mehr Zeit zur Verfügung stehe.

Des Weiteren hält das BSV fest, dass die Versicherten bei den Untersuchungsgesprächen selber feststellen könnten, ob sie tatsächlich vom entsprechenden Sachverständigen untersucht werden. «Dies lässt sich zudem auch über die entsprechenden Tonaufnahmen der Interviews überprüfen», so die Sprecherin. Zudem verbürge sich der Gutachter mit seiner Unterschrift für die korrekte Erstellung des Gutachtens.

Mit der Unterschrift ist es jedoch so eine Sache. 2022 bemängelte das Kantonsgericht Luzern bei einem Fricke-Gutachten die «fehlende eigenhändige Unterschrift». Stattdessen sei Frickes Signatur «offensichtlich hineinkopiert» worden.

Patientinnen und Patienten sind die Leidtragenden

Der neu gewählte SVP-Nationalrat Rémy Wyssmann (56, SO) sieht die «IV-Gutachten im Schnellzugstempo», mit denen man «mehr als ein Bundesrat» verdienen könne, generell kritisch. Der Patientenrechtsanwalt wies die Landesregierung in der Fragestunde des Parlaments darauf hin, dass Gutachten von Fricke von Gerichten als «mangelhaft» beurteilt worden sei und wollte wissen: «Wird der Bundesrat eine Untersuchung veranlassen?»

Blick liegen mehrere Gerichtsurteile vor, in denen die Arbeit von Fricke gerügt wurde. Das Kantonsgericht Basel-Landschaft etwa beurteilte dessen psychiatrische Beurteilung «als lückenhaft, wenn nicht sogar als widersprüchlich». In einem anderen Fall äusserten die Richter «ernsthafte Zweifel am Gutachten von Fricke, weshalb darauf nicht abgestellt werden kann».

Der Bundesrat sieht trotzdem keinen Handlungsbedarf. In seiner Antwort an Nationalrat Wyssmann vom 18. Dezember bestätigte er zwar, dass zwei von elf Fricke-Gutachten, die 2022 von Gerichten beurteilt worden waren, «keine Beweiskraft» zuerkannt worden sei. Dennoch sehe man «keine Veranlassung» für eine Untersuchung.

Dazu muss man wissen: Es gibt auch andere Ärztinnen und Ärzte auf der Liste des BSV, deren Gutachten von Gerichten als unbrauchbar beurteilt worden sind. Bei einigen Gutachtern ist die Anerkennungsquote gar deutlich schlechter als bei Fricke.

Alex Fischer, Bereichsleiter Sozialpolitik bei der Behindertenorganisation Procap, beurteilt die Arbeit von Fricke dennoch sehr negativ: «Wer so viele Gutachten erstellt, kann sich nicht vertieft mit den einzelnen Patientinnen und Patienten auseinandersetzen.» Zudem bemängelt Fischer, dass Fricke überdurchschnittlich viele Menschen für gesund erkläre.

Gutachterstelle PMEDA darf keine IV-Gutachten mehr erstellen

Die Zahlen des BSV-Berichts stützen diese Aussage: Über sämtliche Gutachten hinweg wurde in 46 Prozent der Fälle eine volle Arbeitsunfähigkeit in der bisherigen Tätigkeit festgestellt. Bei Fricke dagegen geschah das nur in 27 Prozent der Fälle.

Der Express-Gutachter will auf diese Differenz nicht eingehen, sondern bleibt vage: «Die Erfahrung bei der Erstellung von Gutachten kann als Voraussetzung für die Qualitätssicherung angenommen werden», schreibt er. Inwiefern «statistisch signifikante Auffälligkeiten» seiner Beurteilungen im Vergleich zur Gesamtheit der psychiatrischen monodisziplinären Gutachten bestünden, könne am besten durch das BSV beziehungsweise die Eidgenössische Kommission zur Qualitätssicherung in der medizinischen Begutachtung (EKQMB) beantwortet werden.

Die EKQMB hat 2023 mit einer negativen Empfehlung dafür gesorgt, dass die umstrittene Gutachterstelle PMEDA von Henning Mast keine IV-Gutachten mehr erstellen darf. Durchaus möglich, dass die Kommission im neuen Jahr auch den Fall Fricke genauer anschauen wird.

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